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AutorenbildEllen Kuhn

Welche Entscheidungsstrategie ist die beste bei der Kinderfrage?

Aktualisiert: 18. Dez.


Entscheidungen treffen, wie treffe ich Entscheidungen, warum sind Entscheidungen so schwer, schwierige Entscheidungen treffen, hilfe bei entscheidungen

"Wie treffen wir Entscheidungen?

Ein Blick in die Psychologie und vor allem in die Neurowissenschaften ist dabei hilfreich.

Der österreichische Schriftsteller Gerhard Roth geht in seinem Buch „Warum es so schwierig ist, sich und andere zu ändern: Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten“ auf die verschiedenen Entscheidungsstrategien ein. Grundsätzlich gibt es für Roth fünf Entscheidungstypen, also je nach Situation unterschiedliche Prozesse und Abläufe, wie wir Entscheidungen fällen. Welchen Typus, welche Entscheidungsform können wir vielleicht für die Kinderentscheidung nutzen?


Der erste Typ sind automatisierte Entscheidungen. Hier geht es um ritualisierte Handlungen, zum Beispiel Autofahren oder wie wir das Frühstück gestalten, welchen Käse wir kaufen. In Bezug auf eine Kindesentscheidung sicher irrelevant. 


Der zweite Typ sind Bauchentscheidungen. Diese treffen wir häufig aufgrund emotionaler Konditionierung. Und die kann uns oft auch zu riskantem Verhalten verführen. Wenn wir beispielsweise entscheiden müssen, ob und wann wir ein Auto überholen. Es ging in riskanten Situationen zehnmal gut und wir werden in der Folge durch unsere positiven Erfahrungen übermütig. Die impulsiv-affektiven Reaktionen sind laut Roth fast immer schlecht, weil sich dabei "archaische Reaktionsweisen wie wütender Angriff, ziellose Verteidigung, Erstarren, panische Flucht Bahn brechen“. Leider muss man konstatieren, dass die Kinderentscheidung bei vielen Menschen so einfach „aus dem Bauch heraus“ gefällt wird, aber eigentlich sollten wir das in Anbetracht der Bedeutung dieser Entscheidungsform doch tunlichst vermeiden, oder?


Der dritte Typ sind die emotionalen Entscheidungen ohne Zeitdruck. „Dieser Entscheidungstyp ist dann angesagt, wenn es gar nichts rational zu entscheiden gibt, entweder weil bestehende Alternativen, rein sachlich gesehen, gleichwertig sind, oder wenn es wie bei ästhetischen Fragen sachlich gar nichts zu beurteilen gibt, oder wenn es als sozial inakzeptabel angesehen wird, rein rational vorzugehen.“ Die Entscheidung fällt hier für die Alternative, „bei der man sich am wohlsten fühlt, und denkt nicht darüber nach, warum“. Hier wird es schon spannender. Wobei es bei der Kindesentscheidung durchaus sehr viele rational abwägbare Argumente gibt, somit „nur das Gefühl“ dieses dritten Typs bei dieser Tragweite eher auch nicht ausreicht, oder?


Der vierte Typ ist die reflektierte, rationale Entscheidung. „Hier entscheiden wir überlegt, wägen zwischen Alternativen und ihren Konsequenzen ab und treffen dann ohne Verzug unsere Entscheidung“, so Gerhard Roth. Angeblich sind diese Entscheidungen umso besser, je mehr „nur der Verstand“ daran beteiligt war. Gefühle sollten bei diesem Entscheidungstyp außen vor gelassen werden. Allerdings ist unser Gehirn mit diesem Typ überfordert, da das Arbeitsgedächtnis, wo die rationale Abwägung stattfindet, sehr schnell überlastet ist. Der menschliche Verstand kann komplizierte Entscheidungssituationen alleine schon aus Gründen der Komplexität des Problems, der mangelnden Kenntnis von Anfangs- und Randbedingungen und wegen der Begrenztheit der Berechenbarkeit gar nicht bewältigen.“  Subjektivität und Vorurteilen sind damit Tür und Tor geöffnet. Auch eher nicht der alleinige Prototyp für die Kinderentscheidung, oder?


Der fünfte und letzte Typ ist die aufgeschobene intuitive Entscheidung. Häufig wird dieser Typ auch mit der Bauchentscheidung verwechselt. Bei der intuitiven Entscheidung geht es um Entscheidungen in komplexen Situationen, bei denen man eine Zeit lang nachdenkt, dann die Sache eine gewisse Zeit ruhen lässt und sich schließlich relativ spontan entscheidet. Informationen werden nicht nur bewusst (in der Großhirnrinde) und unbewusst (im limbischen System) verarbeitet, sondern auch vorbewusst. Dieses Vorbewusste ist seiner Verarbeitungskapazität gegenüber dem, was wir bewusst im Arbeitsgedächtnis verarbeiten können, schier unbegrenzt (…) Entsprechend ist auch die Fähigkeit des Vorbewussten zum Problemlösen sehr viel größer – dies geschieht vorbewusst, nicht unbewusst, und es geschieht nach anderen Prinzipien als unser rationales Denken – eben intuitiv.“ Bei diesem Entscheidungstyp und den damit verbundenen Prozessen scheine ich mit der Kinderentscheidung schon eher an der richtigen Stelle zu sein. 


Wichtig, so Roth, sei eine begrenzte, aber intensive Zeit des Nachdenkens, während derer man sich mit den Rahmenbedingungen befasst. Wobei man sich auf Hauptfaktoren und weniger auf Nebensächlichkeiten konzentrieren sollte. Sehr schädlich scheint es, wenn man in seiner Ratlosigkeit immer noch weitere Experten hinzuzieht, denn dadurch erhöht man nur die Ratlosigkeit. Nach dieser intensiven Beratung sollte man das Thema ruhen lassen, es „überschlafen“ oder sich auf andere Dinge konzentrieren. Das Gehirn arbeitet im Hintergrund weiter. Das rationale und emotionale Abwägen im Vorfeld ist dabei essentiell, denn es schafft Entscheidungsräume und animiert das Vorbewusste, mit den Informationen weiterzuarbeiten. Roth ist der Meinung, dass sich nach einigen Wochen unser Unbewusstes, Vorbewusstes und Bewusstes auf fast wundersame Weise abstimmen und Motive und Ziele klären, so dass wir plötzlich die Dinge klarer sehen.


„Die beste Entscheidung ist die, die man auch lange Zeit später noch für die richtige hält.“ Dann gibt es für das Bereuen keine Chance. Und nach einer in dieser Weise getroffenen Entscheidung fühlen wir uns auf wundersame Weise befreiter. Wir wägen nicht mehr innerlich immer wieder ab oder verschieben den Entschluss auf eine Entität außerhalb von uns selbst, sondern gestalten unser Schicksal selbst. 


Statt neurowissenschaftlich könnte man aber auch philosophisch auf den Weg hin zur Entscheidung blicken. Diese Perspektive kann auch eine Ergänzung sein und die Hemmnisse der Entscheidung reduzieren. 


Gemäß der amerikanischen Philosophin Ruth Chang suggeriert uns ein schwerer Entscheidungsprozess, wir hätten nicht genug Informationen, um die richtige Wahl zu treffen. Deshalb lesen wir Ratgeberbücher, schreiben Pro-und-Contra-Listen, besuchen Coaching- Sitzungen und grübeln. Ruth Chang sieht es ähnlich wie Gerhard Roth – das ist die falsche Strategie. Egal, wie lange man über eine schwere Entscheidung nachdenkt, man wird nie zu einem in gleicher Weise erlösenden und befreienden Ergebnis kommen, das so unzweifelhaft richtig ist wie die bessere Option bei einer leichten Entscheidung.

Sie rät deshalb zu einem besonderen Blickwinkel. Man solle sich nicht die Frage stellen, „Welches ist die bessere Entscheidung?“, sondern die entscheidende Frage lautet: „Welcher Mensch will ich sein?“. Schwere Entscheidungen erlauben uns, laut Chang, die "Autorenschaft über das eigene Leben zu übernehmen". Jeder muss eine schwere Entscheidung für sich selbst und vor sich begründen. Was für ein Typ bin ich? Ist mir Sicherheit wichtiger als Selbstverwirklichung? Familie oder Freiheit? Die Ruhe des Landes oder der Abwechslungsreichtum der Stadt? Mit jeder Begründung schreiben wir an der Geschichte weiter, die wir selber sind. Wir erfinden uns selbst. Und genau das macht uns zu freien Menschen. Einfache Entscheidungen, die klar sind, würden das Leben vorhersehbar machen. Wer ewig grübelt, wer versucht, sich alle Optionen offenzuhalten, um sich bloß nicht zu früh festzulegen, der betrügt sich selbst. Er scheut sich, Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen, und tut so, als gebe es dafür gute Gründe. Dabei stimmt das Gegenteil: Keine Entscheidung ist so schlecht wie überhaupt keine Entscheidung zu fällen.


Die Philosophin, Moderatorin und Autorin Barbara Bleisch kommt mit ihrer Co-Autorin, der Rechtswissenschaftlerin Andrea Büchler, im gemeinsamen Buch „Kinder wollen: Über Autonomie und Verantwortung“ zu folgendem Schluss: „Wir können Kinder haben – oder nicht. Wäre die Entscheidung für oder gegen sie leicht und die Motivlage klar und eindeutig, dann wären wir bereits festgelegt durch innere Pro- und Kontra-Listen, durch quantifizierbare Messungen und vorhersagbare Effekte. Kinder zu bekommen ist in diesem Sinn eine radikal freie Tat. Denn die wahre Freiheit beginnt da, wo wir nicht wissen, sondern wagen“. Ich gebe Bleisch und Büchler recht darin, dass wir uns manchmal davor hüten sollten, zu viel wissen zu wollen, sondern mehr wagen sollten. Uns mit Erfahrungen konfrontieren sollten. Ins kalte Wasser springen. Im Sinne von Hartmut Rosa, die Unverfügbarkeiten in unserem Leben mehr und mehr willkommen heißen, uns durch sie verwandeln lassen, um in Resonanz mit der Welt zu treten. Wir sollten uns unbedingt alle wichtigen Informationen rund um ein Kind und dessen Bedeutung für unser Leben einholen, aber ab einem gewissen Punkt können wir nur bedingt vorhersagen, auf welche Weise uns ein Kind verwandeln wird und unseren Blick auf die Welt und uns selbst verändert. Oder wie unser Leben verläuft, wenn wir keine eigenen haben. Einflüsse von unkalkulierbaren Veränderungen in der Zukunft lassen sich nur bedingt prognostizieren. Und vielleicht ist genau das auch das Wunderbare am Leben. Denn sonst wäre alles berechenbar und vorhersehbar, vielleicht sogar langweilig."


© Ellen Kuhn


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